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Zwei Wochen als volontär in Moria

24. - 25. Dezember 2019

Bin gut angekommen. 😊

Ich bin pünktlich am Heiligen Abend mit einem kleinen Flugzeug in Mytilini auf Lesbos gelandet und konnte direkt am Weihnachtsessen von Eurorelief in Palmfila teilnehmen. War super! Heute hatte ich zuerst, mit drei andern «Neuen», eine kurze Informationsstunde über die Arbeit von Eurorelief, dann fuhren wir gemeinsam nach Moria ins Flüchtlingslager. - Moria ist eigentlich kein Flüchtlingslager, sondern ein «Hotspot», da sich die Menschen auch ausserhalb, des, mit Stacheldraht umzäunten Geländes, aufhalten können. Ich habe schon vor Jahren in einem kambodschanischen Flüchtlingslager und auch in den Slums von Cebu gearbeitet, doch Moria ist nochmals ganz anders. Alles hier ist recht chaotisch und total überfüllt. Wenn man auf den engen Trampelpfaden unterwegs ist, fühlt man sich wie auf einem sehr belebten Markt, wo man sich vorbeidrängen muss, um weiterzukommen. Für 2500 Flüchtlinge wurde dieses Lager aufgebaut, jetzt leben dort auf engstem Raum und mit katastrophalen sanitären Anlagen 20 000 Menschen!!! Ein WC für 200 Personen ! Menschen, die in kleinen Igluzelten, überfüllten Containern und Uno-Zelten, und unter Plachen hausen.

Es ist sehr kalt. Ich fror um 16:00 Uhr in meiner Winterjacke. Überall hat es Abfallberge und die Wege sind glitschig den Hügel hinauf. Wenn es dann erst mal regnet….  Schon auf der kleinen Strasse Richtung Moria-Camp sind viele Menschen unterwegs und schleppen Holzpalette, Äste und andere Utensilien ins Camp. - Eurorelief ist für «housing» und «non food supplies» zuständig, sowie Pampers, Zelte, Kleider, Plachen. Alle Flüchtlinge, die in Lesbos mit kleinen Booten stranden, werden von der Marinepolizei mit Busen ins Lager gebracht, wo sie, in einem abgegrenzten Bereich, ein bis zwei Tage auf die polizeiliche Registrierung warten müssen. Dann versammeln sie sich jeden Morgen auf dem Platz vor dem Container von Eurorelief und bekommen dort ihre Unterkunft, meistens ein kleines Igluzelt, zugewiesen.  Es herrscht eine laute, aufgebrachte Stimmung, weil jeder versucht in seiner Sprache sich irgendwelche Informationen zu verschaffen. 70% sind Flüchtlinge aus Afghanistan, dann aus Syrien und wenige aus dem Kongo und anderen afrikanischen Staaten. - Während unseres Rundgangs im Lager sprach uns, eine offensichtlich sehr gut gebildete Frau an, dass in ihrem Sektor die Elektrizität ausgefallen sei. Leider sei für die Elektrizität die griechische Polizei zuständig, meinte unsere Mitarbeiterin. Die Frau drehte sich zu mir um und stellte in ausgezeichnetem Englisch fest: «Sie müssen wissen, wir leben hier wie die Tiere.» - Morgen ist mein erster Arbeitstag.

26. Dezember 2019

Ich arbeitete heute im Warehouse. Wir bereiteten Pakete mit Pullovern, Hosen, Socken und Unterwäsche, sogenannte «Burritos», für Neuankömmlinge vor. Zwei Boote sind heute Nacht gestrandet. - Wir Volontäre wohnen zusammen in unterschiedlichen Häusern in Palmfila und Umgebung.  Fünf Autominuten vom Camp entfernt. Ich wohne mit vier jungen Frauen aus England, Spanien und Deutschland zusammen und fühle mich wie Zuhause, in unserer Jugendarbeit in Muhen… alles ein bisschen chaotisch, mega herzlich, offen und lustig, so dass es mir gar nicht auffällt, dass ich eigentlich einiges älter bin. Love it 😊 !! Es ist immer «arschkalt» im Haus und wenn wir alle drei kleinen Elektroöfen eingeschaltet haben, fällt die Sicherung raus. So dass wir uns entscheiden müssen, ob wir uns einen heissen Tee mit dem Wasserkocher brauen sollen oder uns doch lieber noch fünf Minuten vor dem «Öfeli» wärmen wollen.

27. - 28. Dezember 2019

Die letzten zwei Tage waren anstrengend. Gestern haben 400 Flüchtlinge das Camp Richtung Athen verlassen und 250 neue sind neu angekommen und brauchten eine Unterkunft. Wir waren zuerst zu zweit unterwegs und suchten in diesem chaotischen Camp bestimmte Zelte (Nummern sind irgendwo aufgesprayt), um diesen Familien mitzuteilen, dass sie die Möglichkeit haben in eine ISO Box oder ein grösseres UNO Zelt zu wechseln. Gleichzeitig mussten wir einer neuen Familie das leergewordene Zelt zuweisen. Wir konnten an diesem Tag etwa acht Familien umplatzieren. Mit vielen Problemen, die wir wegen Verständigungsschwierigkeiten mit Händen und Füssen lösen mussten. - Eine syrische Familie zum Beispiel konnte nach Athen weiterreisen, doch ihre volljährige Tochter hatte noch keine Bewilligung erhalten. Ihr Vater wollte unbedingt, dass sie im grösseren UNO Zelt für Familien bleiben kann, weil er hoffte, dass sie in ein paar Tagen nachkommen könnte, was im gängigen Asylverfahren völlig illusorisch ist. Sie wollte auf keinen Fall in das geschützte Containerareal für alleinerziehende Mütter ziehen, doch im grossen Zelt konnte sie auch nicht bleiben, weil bereits zwei neue Familien auf diesen Platz warteten. Nach zwei Stunden fanden wir dann eine gemeinsame Lösung und die Eltern erreichten gerade noch rechtzeitig den Transferbus. Hinterliessen allerdings ein riesiges Chaos an diesem Ort, wo sowieso alles chaotisch ist…

Dann suchten wir die zwei neuen 6köpfigen Familien, die nun in das vierer Zelt einziehen konnten, das einst eigentlich für zwei Familie vorgesehen war. Doch in Moria müssen alle zusammenrücken, denn die Platzverhältnisse sind gelinde gesagt unvorstellbar eng. Vorher mussten wir aber noch eine Art Trennwand mit Wolldecken einrichten. Alles völlig behelfsmässig. Und dann zeigten wir den zwei Familien ihre neue Unterkunft. Die eine Familie war sofort einverstanden, die andere wollte nicht einziehen. Wieder gab es viele Diskussionen, weil sie trotz Übersetzer nicht verstehen wollten, dass sie kein anderes Zelt bekommen würden, wenn sie dieses hier nicht akzeptierten. Sie lehnten trotzdem ab und schon wurde uns eine neue Familie zugewiesen. Zeltnummer suchen, und der Familie mitteilen, dass sie JETZT, innerhalb einer Stunde, umziehen können. Und all das in einer Atmosphäre, die so eng mit Menschen   «zugepflastert» ist, dass man sich den Weg erkämpfen muss und Hügel hinauf und Hügel hinunter immer wieder angesprochen wird, um irgendeine Frage zu beantworten oder ein Problem zu lösen. 

Am Nachmittag war ich dann vorwiegend allein unterwegs. Ein bissiger Wind weht zurzeit, der durch Mark und Bein geht. Ich hatte dann ein gutes Gespräch mit einem afghanischen Zahnarzt, der mit seiner Frau und drei Kindern ebenfalls über die Türkei geflüchtet war. Ein gebildeter Mann, der sich nach dem Gespräch bedankte und meinte, dass er sich seit langem wieder als Mensch gefühlt hätte. Ich habe ihn heute wieder getroffen und er hat mir bei einigen schwierigen «Fällen» als Übersetzer geholfen. - Es ist schon extrem, wenn wir am Abend um 18:00 ziemlich durchfroren in ein kaltes Häuschen mit drei kleinen Elektroöfen kommen, uns einen heissen Tee machen, warm duschen und in ein warmes Bett schlüpfen können und ich an die Menschen denken muss ,die ich heute persönlich  kennenlernte, die einen Namen und «ein Gesicht bekamen», und die heute Nacht in einem kleinen Sommerzelt übernachten müssen. Und wenn sie im «Dschungel» sind, das heisst ausserhalb des Lagers, haben sie weder Licht, Wasser noch Toiletten in der Nähe. Und heute hatte ich in den letzten zwei Stunden nur Zelte für den Dschungel verteilt…

29. - 30. Dezember 2019

Habe gestern und heute wieder im housing gearbeitet, was ich am liebsten mache. Meistens muss ich irgendein kleineres oder grösseres housing Problem lösen und mit den Menschen sprechen. Der Zahnarzt hat mir gestern wieder einen grossen Teil des Nachmittags als Farsi Übersetzer geholfen. Manchmal ist es sehr schwierig, den Flüchtlingen, die oft, traumatisiert von der Reise, in Moria ankommen, einfach keine gute Unterkunft anbieten und ihre Situation kaum verbessern zu können. Trotzdem hatte ich heute viele gute Gespräche. Gegen Abend wurde es dann ziemlich trostlos, weil es zu regnen begann. Alles wurde glitschig, alle froren, und da ist kein Unterstand, kein Haus indem sich die Menschen aufwärmen könnten.

Am meisten freute ich mich heute über ein Zelt von jungen afghanischen single Jugendlichen. Einer dieser jungen Männer lernte ich bereits vor ein paar Tagen kennen, als er mir spontan als Übersetzer half. Heute kam ich zufällig an ihrem Zelt vorbei. Sie sassen alle vor einem improvisierten kleinen Ofen, so konnte ich meine Hände auch gleich aufwärmen. Sie zeigten mir voller stolz ihre «constraction». So nennt man im Camp die Holzkonstruktionen, die die Flüchtlinge, halb illegal, um ihr eigentliches Zelt bilden. Die Jungs hatten sogar eine richtige Türe mit Türgriff eingebaut und sich im Innern Betten gezimmert. Wir haben dann verbotenerweise einige Fotos gemacht und uns einfach gemeinsam gefreut ! So voller Hoffnung und Leben war diese Begegnung… in diesem Flüchtlingslager, das für die meisten Menschen unerträglich ist.

Silvester / Neujahr 2020

Gestern war ich mit Housing-Angelegenheiten im «Dschungel» unterwegs. Das heisst, in diesem riesigen Bereich ausserhalb des Lagers, der sich immer weiter ausdehnt und sich wie ein Mantel um das Flüchtlingslager legt. Da die Anzahl der Flüchtlinge ständig wächst und es keinen Platz mehr innerhalb der Abgrenzungen gibt, müssen die meisten Neuankömmlinge ihre kleinen Igluzelte dort aufschlagen. Ohne Toiletten und fliessendem Wasser. Da fielen mir drei etwa sechzehnjährige Jungs auf, die verloren herumstanden. Ich sprach sie an und es stellte sich heraus, dass sie ohne Begleitung, ohne ihre Familien seit Monaten unterwegs sind. Sie hatten kein Zelt und schliefen irgendwo draussen in diesem «Dschungel», wo sie vor übergriffen überhaupt nicht geschützt waren. Als ich bei Eurorelief um Zelte für diese Jungs bat, wurde mir erklärt, dass sie als Organisation keine Zelte an diese allein reisenden Kinder abgeben dürfen, weil eigentlich die griechische Regierung für diese Kinder zuständig sei. Da aber der spezielle Containerbereich für Jugendliche, die ohne Begleitung unterwegs sind, keine freien Schlafplätze mehr haben, können sie nicht aufgenommen werden. Später habe ich erfahren, dass es über 500 solcher Kinder im «Dschungel» gibt, die sich völlig selbst überlassen sind und die auch schwer auffindbar sind, weil sie keine Zeltnummer und somit keinen registrierten Ort hatten. So verpassen sie oft wichtige Termine, die sie für das Asylverfahren wahrnehmen müssen. Ich werde die Gesichter dieser drei «verlorenen» traumatisierten afghanischen Jungs nicht mehr vergessen.

 

Am Nachmittag musste wieder die Polizei einschreiten. Eine afrikanische Familie, hatte die Gelegenheit benutzt und innerhalb einer halben Stunde schnell eine freigewordene ISO Box in Beschlag genommen und wollte nun nicht mehr ausziehen. Natürlich war der freigewordene Platz schon lange für eine andere Familie vorgesehen. Einige Familienmitglieder haben Manuel, einen Volontär, körperlich angegriffen als er ihnen erklärte, dass sie wieder ausziehen müssen. - Am Abend sind wir nach der kleinen Silvesterparty, noch zu sechst durch den «Dschungel» auf den Hügel gefahren, von dem aus man einen wunderbaren Blick auf das schwach beleuchtete Flüchtlingslager Moria hat. Es war eine sternenklare Nacht und wir konnten unter uns, im schwachen Licht, all diese Zelte, Container und Constractions erahnen, wo 20 000 Menschen notdürftig wohnen. Punkt Mitternacht hörten wir afrikanische Trommelklänge und Gesang und plötzlich vermischten sich diese wilden afrikanischen Rhythmen mit orientalischer Musik. Es hat mich sehr bewegt, hier oben auf diesem Hügel zu sitzen und die Menschen vor Augen zu haben, die trotz unglaublich schwierigen Umständen und mit wenig Hoffnung gemeinsam ein neues Jahr willkommen hiessen. - Hatte heute frei. Zeit zu waschen und die Küche zu putzen. 

2. - 3. Januar 2020

In der Mittagspause gehe ich oft im «Dschungel» zu einem älteren Syrer in sein kleines Falafel-Restaurant. Ich sitze dann dort auf seinem Spezialhocker und wir sprechen zusammen. Er spricht kein Englisch und so kann ich mein weniges Arabisch üben, was oft eine lustige Konversation ergibt. Er bietet mir jedes Mal noch irgendeine kleine syrische Spezialität und einen süssen Tee an.  Gestern kam sein 28jähriger Freund vorbei. Dieser junge Mann hat im Syrienkrieg seine ganze Familie verloren. Er selbst wurde mehrere Male verwundet und in einem türkischen Gefängnis schwer misshandelt. Er wohnt seit Monaten in Moria und wirkt sehr traumatisiert und depressiv. Es ist traurig und bedrückend und doch hoffnungsvoll, weil die beiden eine Vater-Sohn Beziehung aufgebaut haben. Und ich fühle mich jedes Mal geehrt, dass sie mich an ihrem Leben und ihrer Geschichte, für diese kurze Zeit, teilhaben lassen.

Nach meiner Mittagspause kam ich bei der kleinen «Bäckerei» vorbei, wo einige afghanische Frauen ihre Fladenbrote in der Erde backen. Diese Brote sind mega gut! So habe ich trotz Falafel, syrischer Spezialität und süssem Tee noch auf ein warmes afghanisches Fladenbrot gewartet. Neben mir wartete ebenfalls ein junger Computeringenieur aus Kabul auf ein frischgebackenes Brot. Er hatte für die afghanische Regierung gearbeitet und war nun mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern auf der Flucht. Wir kamen ins Gespräch und so hat er mich spontan zum Essen in sein Constraction-Zelt im «Dschungel» eingeladen.  Ich lernte seine Frau, die in Afghanistan Frauenrecht studiert hat, und die Kinder kennen und wir haben uns über Gott, Politik und die Welt unterhalten. Ich liebe diese aufrichtigen, herzlichen Menschen und wünsche ihnen von Herzen eine sichere Zukunft, die sie sich vor allem auch für ihre Kinder wünschen.

Am Abend sassen wir fünf Frauen noch zusammen in der Küche und sprachen über Moria. Draussen stürmte es und wir setzten uns alle so nahe wie möglich an unser «Öfeli». Wir waren uns einig, dass es oft einfach auch gut ist mit diesen Menschen gemeinsam zu lachen oder gemeinsam «zu bedauern», gerade auch dann, wenn wir ihre Situation nicht ändern können, wenn wir nicht mal ihre bescheidenen Wünsche nach einem zweiten Igluzelt oder einer weiteren Windel erfüllen können.

Heute konnte ich bei «Shower Power» mithelfen. Einer Organisation, die Frauen und Kindern die Möglichkeit bietet, ausserhalb des Lagers eine warme Dusche und eine Mahlzeit zu geniessen. Die Frauen werden zusammen mit ihren Kindern mit einem Bus vom Camp abgeholt und erhalten die Möglichkeit in einem privaten Haus zu duschen, ihre verfilzten Haare zu ölen, zu kämmen, zu föhnen, um dann genüsslich Tee zu trinken. Sie geniessen es sichtlich einen Morgen oder Nachmittag lang an diesem Zufluchtsort zur Ruhe zu kommen und aufzutanken und sich wieder als Mensch zu fühlen.

4. - 5. Januar 2020

Hatte gestern nochmals die Gelegenheit bei «Shower Power» mitzuarbeiten. Fühlte mich aber krank mit Hals- und Gliederschmerzen. Der Bus konnte an diesem Morgen nur eine Gruppe von Frauen abholen, weil es gegen Mittag im Flüchtlingslager einen Aufstand gab. Abfallcontainer wurden angezündet und später erfuhren wir, dass ein Flüchtling aus Afrika im Streit erstochen wurde.  Auch Alltag in diesem überfüllten Camp… Ich konnte heute Abend gerade noch so mit dem Auto nach Hause fahren. - Musste heute mit Fieber Zuhause bleiben, zusammen mit zwei meiner Mitbewohnerinnen, die ebenfalls mit Fieber und Schüttelfrost das Bett hüten müssen. Jetzt habe ich etwas Zeit zu waschen und meine Koffer zu packen. Morgen Abend reise ich zurück in ein anderes Land, ein anderes Leben in meine Heimat, wo mir alles vertraut ist und Freunde und Familie auf mich warten. Diese Option haben all die Menschen, die ich kenne lernen durfte nicht. Wenn sie im besten Fall in einigen Monaten in einem, für sie fremden Land, Asyl erhalten geht ihre beschwerliche Reise weiter. Ohne Verwandte, ohne Freunde, ohne die Sprache zu sprechen, ohne Arbeit oder anerkannte Ausbildung, ohne vertraute Umgebung und vertraute Kultur, müssen sie sich zurecht finden und sich immer wieder für ihr «Dasein» rechtfertigen.